Wie habe ich es als Kind geliebt, als in der Wohnung meiner Großeltern nach dem gemeinsamen Mittagessen eine große Stille eingetreten ist, die nur vom regelmäßigen Ticken der Küchenuhr unterbrochen wurde. Wobei unterbrochen ist das falsche Wort. Begleitet, ja begleitet passt um vieles besser.
Diese große Stille wurde also vom Ticken dieser Küchenuhr begleitet. Sich auf es einzulassen hatte etwas sehr Meditatives. Während mein Großvater in seinem Lehnsessel döste und meine Großmutter in ihrem ein wenig in ihren Magazinen schmökerte, bevor auch sie wegdöste, durften meine Schwester und ich am Sofa knotzen und Comics lesen. Aus der Küche in der klassischen Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung tönte, wenn man sich darauf fokussierte, der eintönige Klang des Uhrentickens. Ich tat dies öfter als tatsächlich zu lesen, wurde dadurch vom Inhalt der „Heftl’n“ immer wieder in das Wesen der Zeit entführt. Es spürte sich einerseits beruhigend an, dieser Gleichklang, andererseits auch bewegend, als Zeichen, das es stetig weitergeht. Nicht zuletzt aber mischte sich in dieses Tick-Tack auch ein schaler Beigeschmack: die Zeit vergeht – und mit ihr das Leben. So jung wie ich war, so alt waren meine Großeltern. So viel Leben ich noch vor mir hatte, so wenige Jahre waren ihnen noch beschieden. Der Lauf der Dinge.
Vor rund zehn Jahren habe ich eine dieser klassischen Küchenuhren – eine von Junghans - antiquarisch erworben. Damals ging ich auf die Fünfzig zu, ließ also, zumindest statistisch gesehen, mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir; erkannte und erlebte, was es bedeutete, dass die Zeit gefühlt immer schneller zu vergehen begann; sah plötzlich so viel Vergangenheit und immer weniger Zukunft vor mir. Mit diesem Bewusstsein begann ich ein Ritual zu verankern. Jeweils am Sonntag zog ich die Uhr, deren Uhrwerk etwas mehr als sieben Tage Gangreserve bietet, auf, um meinem Leben die nächste Woche Zeit einzuhauchen. Das tue ich nun schon rund zehn Jahre lang, Sonntag für Sonntag. Und die alte Uhr läuft immer noch und gibt ihr manchmal beruhigendes und immer wieder mal beunruhigendes Tick-Tack von sich.
Warum beunruhigend?
Ich erinnere mich, dass das Ticken der Uhr und damit der Zeit, auch einigen Menschen aufgefallen ist, mit denen ich online kommunizierte. Sie waren davon irritiert und fragten mich, was dieses Geräusch denn sei. Ad hoc antwortete ich: „Das ist meine alte Küchenuhr. Mein memento mori.“ Als ich diese Aussage im Nachhinein reflektierte, wurde mir klar, dass diese mir spontan eingefallenen Worte, etwas in meine Realität brachten, was auch ich gerne verdränge: meinen eigenen Tod. Und dieser Gedanke beunruhigte mich zutiefst. Bei näherer Betrachtung fand ich aber auch etwas Befreiendes darin: denn alles hat ein Ende, das eine wie das andere; das Belebende, aber eben auch das Lähmende; die Freude, aber eben auch die Angst; das Schöne, aber eben auch das Schlimme. In einer weiteren Betrachtung kam mir auch jene Mechanismen in den Sinn, die wir Menschen in unserer Todesfurcht wählen, um diese zu verdrängen. Und ich wünschte mir und der Welt einen Sinneswandel: Was wäre, wenn wir uns als Todgeweihte begreifen und uns und einander das Leben auf diesem Planeten wunderschön machen, anstatt es uns und einander im Kampf um das längere und bessere Leben schwer und mühsam zu machen?
Angesichts des sicheren Todes ist das eine wertvolle und brauchbare Alternative, finde ich.
Wer macht mit?
Der Titel meiner Kolumne ist dem den Gladiatoren zugeschriebenen Gruß „Morituri te salutant“ entlehnt, ich habe ihn in die Einzahl gewandelt, weil er wirksamer ist, wenn du und ich gemeint sind. Denn du und ich, also wir alle sind Todgeweihte, Sterbliche vom Anfang unserer Existenz an. Diese Tatsache verdrängen du und ich, alsowir lieber. Dazu haben du und ich, also wir eine ganze Menge verschiedenster Mechanismen entwickelt. Ihnen möchte ich in diesen kurzen Texten auf die Spur kommen, sie aufdecken und bewusstmachen. Wenn du und ich, also wir die Bewusstlosigkeit unserem eigenen Tod gegenüber verlieren, du und ich, also wir uns unserer Todesfurcht stellen, ihr quasi von Angesicht zu Angesicht begegnen, dann lässt sich das eigene Leben, deines und meines, aber auch jenes in den Gemeinschaften, in denen du und ich, also wir leben, wahrhaft lebenswert gestalten – für dich und mich selbst und all die anderen.
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